Reiseführer "Erinnerung verbindet Region Oder-Warthe"

4 5 Stät t en der Er i nnerung Vorwort Stät t en der Er i nnerung Vorwort Mit „Europa. Nasza historia / Europa. Unsere Geschichte“ (vier Bände 2016- 2020) ist es polnischen und deutschen Historikern und Geschichtsdidaktikern gelungen, in gemeinsamen Arbeits- gruppen das weltweit zweite bilaterale Geschichtslehrbuch zu verfassen. Mehr als hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus sechs Ländern haben neun Bände mit deutsch-polni- schen Gedenkstätten verfasst (2012- 2018). Dies alles mit dem Ziel, sich besser kennenzulernen und die schwierige Vergangenheit zu verstehen. Und doch ist es schwer, die Geschichte Polens und Deutschlands, zweier benachbarter Länder in der Mitte Europas, gemeinsam zu erzählen. Sie steht im Schatten der letzten beiden Jahrhunderte, durch die koloniale Gewalt Preußens/Deutsch- lands im 19. Jh., durch den Zweiten Weltkrieg mit der brutalen deutschen Besetzung Polens, durch Grenzände- rungen und Zwangsumsiedlungen. Unverheilte Wunden und noch nicht verarbeitete Emotionen werden von Politikern für kurzsichtige, interne Zwecke angeheizt. Und doch geht der Dialog weiter ... Auf der Ebene von lokalen Regierungs- beamten, unabhängigen Bürgerorga- nisationen, von Wissenschaftlern, Lehrern oder Künstlern. Es geht nicht darum, wer Recht hat, wer besser oder stärker ist. Im Wesentlichen geht es um gegenseitiges Verständnis und einen gemeinsamen Konsens. In diesem Sinne sehe ich auch die Initiative zur Bildung eines gemeinsa- men Gedächtnisses der Mittlere Oder/ Oder-Warthe-Region, die von den Städten Seelow, Kostrzyn/ Küstrin und der Gemeinde Słońsk/ Sonnenburg getragen wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sagte mir ein prominenter deutscher Politiker, dass Polen und Deutsche aufgrund ihrer gemeinsamen Erfahrung von Vertreibung und Deportation einander endlich besser verstehen können, weil sie ein gemeinsames Schicksal teilen. Ist das so? Wir kamen schnell zu dem Schluss, dass wir uns nur dann besser verstehen würden, wenn wir beide den Wunsch und den Willen hätten, die Geschichte unseres Nachbarn kennenzulernen. Polen und Deutsche verbindet zwar die Massen- vertreibung, aber sie sind beispiels- weise durch die Erfahrung der deut- schen Besatzung Polens getrennt. Die Erinnerungsarbeit besteht nicht darin, unsere eigene Vergangenheit zu verklären, sondern die Andersartig- keit unseres Nachbarn zu erkennen. Wir müssen uns nicht einig sein, aber wir sollten Sensibilität für nachbar- schaftliche Erfahrungen entwickeln. Die Regionen in unmittelbarer Nähe der deutsch-polnischen Grenze ermöglichen es uns, die Geschichte aus der Nähe zu betrachten. Orte, Ereignisse, herausragende Persön- lichkeiten haben nicht mehr nur eine abstrakte polnische oder deutsche Bedeutung. Sie sind greifbarer, konkreter und haben somit eher eine menschliche als eine ideologische Dimension. Es ist nicht so, dass die Region einst frei und offen war bis das Jahr 1945 kam und sie trennte. Sie wurde 1945 erstmals durch eine Staatsgrenze geteilt, aber sie wurde auch über Jahrhunderte hinweg nach dem Willen der Herrscher und lokalen Interessen geformt, erobert und auf- geteilt, wie es den Herrschern der jeweiligen Zeit passte. Heute können wir in der Kulturland- schaft Spuren vergangener Zeiten finden, denn, wie Karl Schlögel schrieb: „Im Raum lesen wir die Zeit.“ Neben den Spuren der Zeit sollten wir auch die Menschen nicht vergessen, die den Orten Bedeutung verliehen haben. Dieser Prozess, vergessene Orte zu finden und ihnen eine histori- sche Bedeutung zu geben, erfordert Die Vergangenheit kennen, die Geschichte verstehen, die Erinnerung festigen Wissen und Einfühlungsvermögen. Die Tatsache, dass „etwas“ im heu- tigen Gedächtnis nicht existiert, darf nicht dazu führen, dass wir es über- sehen. Orte (lateinisch loci) werden zu einem lebendigen (funktionalen) Ge- dächtnis, wenn wir ihnen eine Bedeu- tung geben und eine Geschichte über sie erzählen, die die Menschen, ihre Vorstellungskraft und ihre Gefühle erreicht. Wenn uns dies gelingt, können wir aus vergessenen historischen Orten Erinnerungsorte – loci memo- riae – schaffen, die den heutigen und künftigen Generationen nahestehen. Durch sie können wir auch unsere gegenseitige deutsch-polnische Wahrnehmung gestalten. Und das schwierige Erbe, das „nicht unser“ ist, kann realistischerweise „geteilt“ werden. Robert Traba o d e r - w a r t h e erinnerung v e r b i n d e t

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